SAB

Es ist Montag, der 06. August, nachmittags, kurz nach 14.00 h. Ich sitze auf der Couch und ruhe mich noch ein bisschen aus, bevor ich zur Arbeit fahre. Ich bin 35 Jahre jung; na ja, das ist nicht mehr jung jung, aber ich fühle mich jung und sehr gut. Vor ein paar Wochen habe ich mich selbständig gemacht, ich habe ein medizinisches Schreibbüro eröffnet und habe viel zu tun, es läuft und ich verdiene Geld. Zum ersten Mal bin ich selbständig, nicht mehr angestellt und es fühlt sich so gut an, ich bin glücklich...

 

Noch ein letzter Blick, dann nehme ich die Fernbedienung, schalte den Fernseher aus, stehe auf, um noch zu duschen.

 

Vier Schritte komme ich weit - vier Schritte, die mich von einer Form des Seins in eine ganz andere führen, vier Schritte, von 100 auf 0 im Bruchteil einer Sekunde - ich falle auf die Knie – dann kniend auf mein Gesicht.

 

Ich falle um, wie ein gefällter Baum. Einfach so.

Ich bin entmündigt, entmachtet, entwurzelt einfach so...

 

Das ganze Ausmaß ist mir in diesem Augenblick noch nicht bewusst, aber mir dämmert, da ist was wirklich Schlimmes passiert.

 

Ich sehe so etwas wie violettfarbene, flüssige große Blasen, die zäh herunter zu tropfen scheinen, irgendwo rechts von mir... ich denke „Schuss", „Kopfschuss“ - aber wer sollte mir in den Kopf geschossen haben, zumal ein solcher Gedanke in unseren Breitengraden vollkommen abwegig ist, dennoch habe ich ihn...

 

Ich rufe um Hilfe. Zu dieser Zeit leben mein Mann und ich noch in der kleinen Wohnung unterm Dach im Haus meiner Eltern. Es ist Montag. Mein Vater ist montags nie da. Aber heute, heute ist er da… Einer der vielen Zufälle oder glücklichen Gegebenheiten, wie auch immer, die mit dazu beigetragen haben, dass ich heute hier sitze und schreibe…

Er hört mich und ich rufe ihm zu, er solle meine Wohnungstüre eintreten. Er tut es ohne zu Zögern und kommt herein…

 

Ich spüre wie meine rechte Körperhälfte sich mit solcher Macht und Kraft zusammenkrampft, derer ich sie nie fähig gehalten hätte, ich glaube mich, Kopf voran durch meine krampfende Hand in meinen Arm kriechen zu spüren, meinen Körper sich, wie ein Delphin, - ja, ich denke tatsächlich in diesem Moment, in diesem Zustand an einen Delphin - zu einem Kreis schließen zu fühlen, während ich mich in unvorstellbarer Geschwindigkeit um mich selbst drehe immer und immer wieder... Es ist so überwältigend und geschieht alles so rasend schnell, dass ich gar nicht recht bei mir bin und mir doch nie näher war...

 

Ich sehe Sternennebel, tunnelförmig angeordnet, hell und undendlich weit. Mich weiterdrehend zieht es mich in eine Unendlichkeit durch diesen Tunnel immer weiter und weiter... Ich habe Angst und dennoch bin ich bereit, wofür auch immer… Ich habe ganz kurz einen Gedanken – „Wenn ich jetzt loslasse, dann fliege ich davon, dann bin ich weg…“ irgendwie wird mir leicht…

 

Später werde ich diese Empfindungen zweimal gegenüber einem Arzt erwähnen. Danach nie wieder. Ich habe selten erlebt, dass jemand so schnell so krampfhaft um neurologische Wahrscheinlichkeiten gerungen hat, um mir das Erlebte zu erklären. Wobei ich selbst um keinerlei Erklärung gebeten hatte.

 

Dann höre ich mich schreien, ich schreie, als käme ich aus einer anderen Welt und das tue ich auch, irgendwie.

 

Mein Vater steht vor mir und hat wohl eine Decke über mich gelegt. Später wird er mir berichten , dass er noch niemals einen solchen Schrei gehört habe, einen Schrei, so voller Empörung und Widerstand...

 

Ich sage ihm, er solle den Notarzt rufen… ich sage in den kommenden Minuten noch vieles, an das ich selbst mich gar nicht mehr erinnere. Ich verliere immer wieder das Bewußtsein, komme aber immer wieder zurück, organisiere, rede mit meinen Eltern, bitte meine Mutter, meinem Mann, der zur Arbeit ist, Bescheid zu geben…

   

Die ganze Zeit höre ich ein rhythmisches Rauschen, wie Meeresrauschen, es hat etwas Schönes, Beruhigendes… später wird mir bewußt, es ist das in meinen Kopf einschießende Blut, mit jedem Herzschlag.

 

Der Krankenwagen kommt, er war „zufällig“ gerade eine Straße weiter und hat den Notruf gehört. Der Sanitäter bittet mich, mein linkes Bein anzuheben. Ich hebe das rechte Bein. Ich versuche es immer wieder, insgesamt dreimal bittet er mich darum, das linke Bein zu heben, dann wird mir bewußt, ich bin gelähmt. Meine gesamte linke Körperhälfte ist gelähmt. Es war eine der beängstigendsten Empfindungen, der überwältigendsten Wahrnehmungen, die ich in meinem Leben, bis heute, gehabt habe.

 

Ich frage ihn, ob ich nun sterben müsse, er meint, „nein, so schnell stirbt man nicht“ und ich denke „wenn du wüßtest“. Er meint – ich habe vielleicht einen schweren Migräneanfall. Ich frage meinen Vater, ob ich einen Schlaganfall hatte – das weiß ich von ihm. Er hat mir das erzählt, ich erinnere mich nicht mehr daran, das gefragt zu haben…

 

Letztendlich sehen auch die Sanitäter, dass da was nicht stimmen kann und geben Gas…

 

Ich schaue noch in die Augen meiner Mutter. Meine Mutter hat graublaue Augen, nun sind sie strahlend blau, eine Mischung aus grellem Hellblau und Türkis und sie scheint unendlich weit weg zu sein, so, als sehe ich sie durch ein Fernglas, nur umgekehrt… Diesen Tunnelblick verliere ich nicht mehr, bis sie mich in der Klinik endlich erlösen und in ein künstliches Koma legen.

 

Ich habe Schmerzen, solche Schmerzen, dass ich keine Worte dafür finde. Sie sind so stark, dass ich sie mir heute selbst gar nicht mehr wirklich vorstellen kann.

 

Später lese ich ein Buch mit dem Titel „Aneurysma, Überleben nicht ausgeschlossen“. Die Autorin schreibt darin einen Absatz, den ich nie vergessen habe und den ich nicht hätte besser schreiben können. Ich danke Birgit Sutarna sehr für diese so zutreffende Beschreibung und bediene mich ihrer nun:

 

„Die Tage nach der Operation fühlte ich nichts außer Schmerzen, deren Intensität ich nicht beschreiben kann. Ich kann mich nicht an sie erinnern, kann sie nicht mehr wachrufen. Es ist wie ein Vakuum. Doch ich erinnere mich, dass einer der ersten Gedanken auf der Intensivstation dem Plan gegolten hat, einer aktiven Sterbehilfe-Organisation beizutreten. Wenn ich je herauskommen sollte. Diese Schmerzen waren unerträglich, niemand sollte das mitmachen müssen, zumindest dann nicht, wenn es keine Überlebenschance gibt….“

 

Ich erbreche mich und glaube, mein Kopf zerberste unter dem Druck. Das letzte was ich höre ist, dass ein Arzt zu meinem Vater sagt, „Ich lege sie jetzt ins Koma, damit sie das nicht mehr mitmachen muss. Jede Sekunde zählt jetzt“…

 

Ab hier kann ich nur noch berichten, was man mir erzählt hat. Sie schieben mich in die Röhre und sehen, dass mein „ganzer Kopf voller Blut“ ist. Sie bohren mir sofort ein Loch in den Kopf und legen eine externe Drainage, ein „Hörnchen“, wie es auch genannt wird, damit das Blut mit dem damit vermischten Hirnwasser abließen kann, zur Druckentlastung meines Gehirns.

 

Was nun alles folgt, all die Wochen und Monate, würden den Rahmen sprengen und ich müsste doch noch ein Buch schreiben über all die Einzelheiten. Dies wurde mir zwar schon angetragen, bis heute habe ich es jedoch abgelehnt. Wozu sollte ich das tun. Die, die ähnliches, die eine SAB diesen Grades überlebt haben, es sollen 2 Prozent sein, die haben ihr eigenes „Wunder“ und die, die es nicht überlebt haben, die haben nichts davon; ebenso wenig deren Angehörige. Warum also sollte ich darüber ein Buch schreiben…

 

Aber so viel:

Ich hatte eine SAB, eine Subarachnoidalblutung Hunt & Hess - Grad 3-4, aufgrund einer Aneurysma-Ruptur erlitten. Das Aneurysma war am Abgang der aorta communicans posterior rechts.

 

Definition Aneurysma:

„Eine sackförmige Ausstülpung der Wand von Blutgefäßen durch eine angeborene oder erworbene Gefäßwandschwäche. Etwa 2% der Bevölkerung sind davon betroffen, die meisten wissen nichts davon. Tritt die Erkrankung im Gehirn auf und kommt es – wie bei 30 % aller Fälle – zum Platzen des Aneurysmas, endet dies für jeden Zweiten tödlich, jeder Dritte behält bleibende neurologische Schäden zurück.“ (Quelle: Pressestelle der Universität Zürich)

 

Zweimal wurde angiographisch für etliche Stunden in und durch mein Gehirn „gegangen“. Einmal, um das geplatzte Aneurysma aufzufinden. Das andere Mal, um die Stelle operativ zu versorgen.

Das geplatzte Aneurysma wurde gecoilt, nicht geclippt. Mein Schädel wurde nicht geöffnet, weil es durch die Lokalität des Aneurysma möglich war, minimalinvasiv über die Leiste in mein Gehirn zu „fahren“ und an der Ruptur Platinspiralen einzulegen, damit die zerrissene Stelle damit verwachsen und sich somit verschließen könne.

 

Ein Zufallsgenerator in England, der im Rahmen einer Studie eingeschaltet war, hatte zwar die offene OP für mich heraus gelost, mein Mann jedoch , der damals noch nicht offiziell mein Mann war, weil wir noch nicht verheiratet, aber schon über 10 Jahre zusammen waren, hatte beschlossen - nachdem er sich eine ganze Nacht mit den Ärzten um die Ohren geschlagen, sich informiert und gegen die Aussage „sie sind ja nicht mal verheiratet, sie haben nichts zu sagen“ gekämpft hatte - dafür zu sorgen, dass in meinem Fall die minimalinvasive Methode angewandt werden würde.

 

Weil ein Eingriff immer auch eine Verletzung darstellt und wir uns schon oft darüber unterhalten hatten, dass wir in egal welchem Fall, diese Verletzung immer so gering und jeden Ein-Griff (!!) so klein als möglich halten würden.

 

Noch heute bin ihm so dankbar dafür! Niemand hätte das in einer solchen Situation noch so hinbekommen! Niemand hätte noch die Kraft und das Durchsetzungsvermögen gehabt, das dafür notwendig gewesen war.

 

Es hat mir doch zusätzliches Leid und wahrscheinlich auch spätere zusätzliche Schmerzen und  Beeinträchtigungen erspart. So eine große Narbe am Kopf muss ja auch bedacht werden. Und wenn es gar nicht sein muss…

 

Am Ende wurden sie sich einig und Herr Dr. Klisch (heute Prof. Dr.) mit Herrn Prof. Dr. Glocker, operierten mich.

 

Mein „geplatztes“ Aneurysma wurde endovasculär mit zwei Coils verschlossen. Damals eine noch selten angewandte Methode, heute die üblichere der beiden (Coiling statt Clipping).

Ich bin Herrn Dr. Klisch noch heute dankbar. Er hat seinen Job wirklich gut gemacht, wenn ich das so sagen darf, und das darf ich! Auch im Nachhinein, bei den vielen, vielen Nachuntersuchungen über Monate und Jahre hinweg, hatte er immer ein offenes Ohr für mich…

 

Meine Halbseitenlähmung ging schnell zurück.

Meine extraventrikuläre Drainage (also der Schlauch, der aus meinem Kopf stand), wurde aufgrund des Verdachtes einer Ventriculitis entfernt. Tatsächlich hatte ich dann auch zusätzlich eine Hirnhautentzündung.

Die Drainage wurde dann als Lumbaldrainage gelegt,  also in den Lumbalkanal im Rücken.

 

Ca. zwei Wochen blieb sie da liegen, damit das Hirnwasser, welches mit dem für das Gehirn toxischen Blut vermengt war, abfließen konnte.

Ich lag dann auf Isolation, weil ich durch die Hirnhautentzündung natürlich noch gefährdeter war. Wenn jetzt noch etwa dazukommen sollte, wäre ich wahrscheinlich doch noch verstorben, es war so schon ein Kampf, mich durchzubringen.

 

Ich überlebte. Am Anfang mehr schlecht, als recht. Meinen Kopf auch nur anzuheben, war ein Ding der Unmöglichkeit.

Ich dämmerte vor mich hin, zwischen mehr und weniger wach und bewußt sein… Ich hatte Schmerzen, obwohl ich mit Schmerzmitteln richtiggehend weggebeamt war. Auch dafür bin ich heute noch dankbar. Sie haben wirklich alles getan, um es mir so erträglich als möglich zu machen!

 

Ich überlebte 9  - mehr oder weniger gut gemachte Lumbalpunktionen, je nach Können des Arztes, mit den darauf folgenden höllischen Kopfschmerzen und der Übelkeit.

 

Ich wurde nachts wach, weil mich etwas in der Leiste oder im Rücken stach – da konnte es sein, dass die Herren Dres. Kretzschmar und Schäfer gerade dabei waren, meinen neuen zentralen Venenkatheter oder meine Lumbaldrainage fest zu nähen, damit sie nicht wieder verrutschen würde…

 

Irgendwann hörte mein Darm auf zu arbeiten und mein Bauch schwoll unsinnig an. Nicht ungefährlich, wenn keine Darmtätigkeit mehr zu hören ist… Aber auch das haben wir hinbekommen.

 

Ich war weit über 20 mal „in der Röhre“. MRT und CT neben weiteren Untesruchungen, wie Doppler usw...

 

Ich hing an zig Schläuchen durch die alle möglichen Medikamente liefen.

Ich wurde künstlich ernährt.

Meine Haare fielen mir irgendwann ordentlich aus und meine rechte Kopfhälfte war ohnehin zum größten Teil rasiert.

 

Als ich rauskam hatte ich über 10 Kilo mehr auf den Rippen und sonst noch wo hängen. Auch nicht schön. Nach drei Jahren hatte ich dann 30 Kilo zugenommen, die ich mit WeightWatchers in 10 Monaten wieder abgenommen hatte. Leider kamen 15 wieder dazu. Die müssen noch runter…

 

Ich weiß nicht, wie oft ich gehört habe: „Sei doch froh, dass du überhaupt lebst, ist doch egal…“ Als ob mir das irgendjemand sagen müsste…

Oder – „Da hast du aber Glück gehabt…“. Ja, Glück, das mag schon sein. Noch nie jedoch kam jemand auf die Idee zu sagen, dass es nicht nur Glück war. Dass es nicht nur die Ärzte waren, die alles getan haben, mich zu retten, dass auch ich selbst eine Rolle dabei gespielt habe! Dass auch ich zu meinem Überleben meinen Teil beigetragen habe! – Und wer weiß, wer noch alles…

 

Ich habe so oft gedacht - und das ist es, was ich anderen, die Ähnliches oder Gleiches erlebt haben, sagen möchte:

**Es ist nicht nur Glück. Man muss nicht nur dankbar sein, für das viele Glück das man hatte! So viel Glück kann ein einzelner gar nicht haben, wo soll das denn herkommen? Es sind nicht „nur“ die Ärzte und die moderne Medizin. Natürlich sind sie maßgeblich am Überleben und Genesen beteiligt. Aber nicht nur!

 

Man selbst ist auch Teil des Ganzen. Nicht nur in der Rolle des Kranken, des Patienten, des Verletzten, des Ohnmächtigen, Entmachteten…

 

Ich konnte es irgendwann nicht mehr hören. Diese Mischung aus Mitleid und beinahe beschwörender Aufforderung, dankbar zu sein, für’s eigene Überleben!

 

Irgendwann kam ein Bild in mir hoch: Ich dachte bei mir, wie wäre es, wenn ich in einem „Naturvolk“ leben würde. Irgendwo und irgendwann, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, unter anderen Vorzeichen. Vielleicht würde ich dann, so verletzt, auch gedemütigt und klein wie ich war, jedoch nach erfolgreichem Kampf, den auch ich selbst bestritten habe und der dort Anerkennung finden würde, entspannt und „gewachsen“ vor meinem Zelt sitzen und die Menschen meines Dorfes kämen vorbei und brächten mir kleine Geschenke und Essen dar. Anerkennungen für meinen erfolgreichen Kampf, für mein Überleben. Vielleicht wäre ich dann nicht mehr nur bedauernswert und in die Rolle des dankbaren Opfers gedrängt, das immer nur Glück hatte, so, als ob ich selbst so gar nichts damit zu tun gehabt hätte…

 

 

Eine weitere Aussage, die der eine oder andere traf: „Wenn ich das überlebt hätte, was du überlebt hast, dann würde ich jetzt aber….“.

 

Irgendwann habe ich mich gefragt, worauf die Leute denn warten. Warten sie etwa, dass ihnen zustoßen möge, was mir wiederfahren ist, um das zu tun, was sie dann tun würden? Wieso tun sie es nicht einfach, nun, da sie doch wissen, wie schnell alles vorbei sein kann…

 

Ich konnte die vielen Reisen, Abenteuer und Verrücktheiten, die man mir vorgeschlagen hatte, nicht unternehmen. Zum einen war ich noch immer zu verletzt an Körper und Seele, zum anderen hatte ich das Geld dafür nicht mehr – so pragmatisch war das!

 

Womit ich manchmal haderte: Ich hatte keine Begegnungen. Ich habe Jesus nicht getroffen. Auch nicht meine Ahnen. Weder meine Großmutter, bei der ich groß werden durfte, noch sonst einer meiner Lieben, die mir vorangegangen sind, ob 2- oder 4-beinig, ist mir erschienen. Ich sah auch keinen Fluß… nichts dergleichen. Ich habe die Menschen, die ihre Nahtoterfahrungen beschrieben haben und solch schöne Begegnungen hatten, oder dachten, sie gehabt zu haben, immer beneidet. Wenn ich schon so weit hatte gehen müssen und so nah am Drüben war, wieso ich nicht… Irgendwann einmal kam mir die Idee, dass das, was ich gesehen hatte, meine Sternennebel und meine rasante Reise ins Universum, vielleicht das war, was ich „sehen“ sollte, nicht mehr und nicht weniger. Und – dass das Überleben selbst das große Abenteuer war und ist.

Ich muss dazu sagen, dass ich sehr gut überlebt habe. Ich habe lediglich einen Kraftverlust der linken Seite erlitten. Mein linkes Auge „hängt“, es kommt nicht schnell genug mit, wenn ich von unten nach oben oder überhaupt um mich herum schaue. Der Nerv ist wahrscheinlich geschädigt, gelähmt, durch den enormen Druck, der durch die Gehirnblutung herrschte (Hirnödem).

Zudem ist mir ein Hydrocephalus malresorptivus internus geblieben. Ein interner, schlecht abfließender Wasserkopf. Bedeutet – mein Hirnwasser produziert sich normal, fließt aber nicht regelmäßig ab. Das spart mir manches Bier und manchmal binde ich meine Schuhe lieber im Sitzen, als mich zu bücken, weil ich sonst das Gefühl habe, mir springen die Augäpfel aus den Höhlen… Oftmals ist mir schwindelig und Kopfschmerzen habe ich auch manchmal. Aber, wer hat die nicht.

 

Ich habe fünf Bandscheibenvorfälle als Folgeerkrankung mitgenommen und es gibt Tage, da kommt mir auch meine Psyche ganz schön in den Weg… Aber sehr wahrscheinlich ist das „normal“.

 

Einen Shunt habe ich nicht. Ich bin ein Grenzfall und wir hatten uns damals dazu entschieden, keinen Shunt zu setzen. Ich kann mittlerweile auch ohne ganz gut leben.

 

Einmal habe ich in einer Reportage eine Frau gesehen, die erzählte, dass sie in einer Discothek war, als dort ein Attentat geschehen sei. Man habe auf Menschen geschossen. Sie sei traumatisiert und in psychotherapeutischer Behandlung.

Ich konnte nur ganz trocken denken: Der Vorteil, den sie hatte, war, dass sie von außen angegriffen wurde. Immerhin kann sie künftig Discotheken meiden. Sie selbst war ja noch nicht einmal angeschossen worden! Aber selbst wenn… sie hätte ja auch überlebt.

 

Was mir und jedem, der so etwas erlebt hat, passiert ist, ist etwas ganz anderes. Mir wurde nicht von außen geschadet. Mich hat mein eigener Körper „verlassen“ – ich wurde von mir selbst, von meinem eigenen Körper „angegriffen“, im Stich gelassen... Das ist nochmal eine ganz andere Nummer!

 

Irgendwann, als ich wieder einigermaßen klar war, kam mir einmal ein Gedanke „Hinrichtung“. So hatte es sich angefühlt. Wie eine Hinrichtung…

 

 

Die großen Abenteuer, die ich, nach Ansicht einiger Mitmenschen nun endlich unternehmen sollte, habe ich noch immer nicht in Angriff genommen. Sie allerdings auch nicht;)).

Ich lebe mein Leben leise weiter.

 

Ich habe kein Buch geschrieben. Ich bin nicht prominent und somit ist meine Geschichte für die breite Öffentlichkeit nicht von Interesse.

Die meisten Menschen heißen nicht Köster oder Lierhaus, sie heißen Müller, Schmidt, Huber oder Kiehnle-Sacher.

 

Ich habe gelernt mit meinem Verändert-Sein zu leben. Und natürlich bin ich anders geworden. Physisch als auch psychisch. Eine gewisse Selbstverständlichkeit ist weg. Es ist ja nicht so, dass ich nicht schon immer gewußt hätte, dass ich irgendwann sterben muss, so wie jeder von uns. Aber beinahe Sterben, mit allem, was dazugehört, ist doch etwas anderes, weil das Leben danach – verändert – weitergeht. Und das meine ich nicht nur negativ.

 

Es gibt nun eine Einteilung in ein Vorher- / Nachher – Leben. Wobei es da zuweilen zu so etwas, wie Insel-Hopping kommt – ich bin mal hier, mal da…die Übergänge sind manchmal fließend.

Ich habe meine Familie ich kann reden, atmen, mich bewegen, das alles war gar nicht mehr selbstverständlich.

Ich habe ein Leben, mein Leben und wer weiß, was da noch alles zu mir kommen wird. Ganz zu schweigen davon, was alles schon bei mir war ;).

 

Es gibt Tage und Zeiten, da fallen mir einfache Dinge schwer, da muss ich umdenken, kann nicht mehr so, wie ich es mal konnte. Also geht es anders.

Ich habe innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde ganz vieles verloren, was mir ein anderes Leben beschert hätte. Auch damit musste ich lernen, umzugehen, es zu akzeptieren, was ich weitestgehend getan habe und tue.

Ich habe mich nur ein einzige Mal ganz kurz gefragt "wieso". Niemals "wieso ich", weil diese Frage vollkommen unsinnig wäre. Ebenso gut könnte ich fragen, "wieso ich nicht"...

Ich nehme es einfach an. Das heißt nicht, dass ich mir manchmal nicht wünsche, es sei nicht so gekommen. Und das es nicht auch Momente gibt, in denen mir zum Weinen zumute ist und in denen ich nicht weine.

Aber ich hadere nicht damit, dass es so ist.

 

An gewisse „Stellen“ sind andere Dinge getreten. Prioritäten haben sich verändert, ich ändere sie. Altes hat Neuem Platz gemacht. Manches Liebgewonnene ist für immer vergangen, wenn auch nicht vergessen. Wertigkeiten verschieben sich.

 

Leben ist Wandel und wandelbar!

 

Und wenn ich genau hinsehe, dann erkenne ich, dass ich gar nicht so anders bin, dass ich immer noch Anja bin. Und jeden Tag ein Stückchen mehr…

 

Ich bin dankbar für dieses Leben.

Denn ich habe ja überlebt, bin am Leben.

 

Ich danke meiner Familie - meinem Mann, mit dem ich mittlerweile nun auch verheiratet bin, (dieses Jahr - 2014 - sind wir 24 Jahre zusammen, davon 11 verheiratet) und meinen Eltern. Allen damals beteiltigten Ärzten inner- und außerhalb der Universitätsklinik, ebenso allen Krankenschwestern und -pflegern und der einzigen Nonne im Klinikum, deren Namen ich leider nie erfahren habe. Meinen Tieren und überhaupt allen Helfern, gerade auch den unsichtbaren...

 

Danke!